Konvoi!

Was tun, wenn die DDR in Gestalt der ehemaligen Fahrbereitschaft an einem vorbei rollt? Ganz klar: einsteigen und mitfahren!

Für einen kurzen Moment ist Ramona irritiert: „Schatz, wo haben WIR eigentlich geparkt?“ fragt sie über ein dunkelblaues Autodach hinweg ihren Mann Matthias. Der kichert nur von der anderen Seite des 264 TE, klopft mit einem Fingerknöchel auf das ehemalige Staatsblech: „Genau vor dir!“ Ramona fasst sich lachend an den Kopf – kann ja mal vorkommen auf so einem Regierungsfahrzeugtreffen, dass man den eigenen Volvo vor lauter Bäumen nicht sieht...

Hunderten von ehemaligen VW- und Wartburg-Mitarbeitern ging es zur Bauzeit der Volvos schließlich ähnlich: Nach Schichtende stand man da so manches Mal ratlos auf den Werksparkplätzen vor vielen roten Golf II und Wartburg 353... Geschieht „denen da oben“ also ganz recht, dass sie ihre Staatskaleschen auch mal nicht auseinander halten können! Weil eben so viele davon da sind. Auf dem mittlerweile sechsten Regierungsfahrzeugtreffen des „Fuhrpark Ost-West e. V.“. Von wegen „Exklusivität“ – hier fährt ja jeder so ein skandinavisches Einheitsvehikel. Allerdings, die Unterschiede sind jeweils fein und liegen im Detail – oder sind abhängig von den ehemaligen Benutzern. In jedem Fall gilt: je näher man sich mit den stummen Zeitzeugen auf Rädern befasst, die einst die Fahrbereitschaft von Staatsratsvorsitzendem Erich Honecker & Co. bildeten, desto plastischer wird die Illusion der Vergangenheit. Also hinein ins Velours und die Sechszylinder gestartet!

Über 30 ehemals „staatstragende“ Fahrzeuge verlassen an diesem sonnigen Maimorgen das hoch auf dem Berg thronende FDGB-Heim „August Bebel“. So jedenfalls hieß das heutige Ahorn Hotel Friedrichroda zur aktiven Dienstzeit der Volvo 264 TE, der 760, der 960. Nur einige davon machten „halblang“ im wahrsten Sinne des Wortes, die meisten dunkelblauen und schwarzen Limousinen lassen ihre volle Länge laufen. Auch im DDR-Fuhrpark existierte sie, die reale Hierarchie der Statussymbole auf Rädern. Doch was wären die Herren in ihren Limousinen gewesen ohne die Lastesel in Form der imposant verlängerten Volvo 245 Transfer? Nun: beengt vom eigenen Gepäck, lautet die Antwort.

Deshalb ist auch ein Transfer mit von der Partie, allerdings mit seltenem Vierzylinder. GAZ-13 Tschaika und Tatra 603 „Walfisch“ sind ebenfalls mit von der Partie, dazu Lada 2101 und Wolga M 24, außerdem als „Ausreißer“ gen Westen ein verlängerter Mercedes 260 E W124. Doch sogar der stammt nicht aus den Beständen des Klassenfeindes, sondern ist neutralen Ursprungs wie die aus Schweden stammenden Volvos: Herkunftsort war ursprünglich ein Schweizer Hotel. Passt also alles, zumal zur fröhlich-aufgekratzten Stimmung unter den Teilnehmern. Da schwingt Daniel den originalen Staubwedel zum Ex-Regierungs-Volvo, von dessen Rücksitz aus einem noch immer Willi Stoph zulächelt. Keine Angst, nur sein Ebenbild als Ölgemälde ist es, wobei der das Portrait in Position haltende schwarze Sicherheitsgurt scheinbar Trauerband und Augenklappe gleichzeitig zu sein scheint...

Mitten im allgemeinen Aufbruch lässt Frank die bereits geöffnete Fahrertür wieder los: „Das ist ja gar nicht mein Volvo!“, gibt der Mann mit dem Honecker-Hütchen auf dem Kopf eine unfreiwillige Einlage, die jeden Loriot-Film geziert hätte. Also rasch ab in den richtigen 264 – einer der drei ersten, die 1976 ihren Dienst in der DDR antraten. Hündchen Belami springt hintendrein, dann fällt die solide Tür des Stretch-Volvos ins Schloss: Aufbruch nach Erfurt, der ersten Etappe des diesjährigen Treffens.

Der Autor dieser Zeilen bleibt übrigens auf allen Etappen „Fond-Manager“, testet ergo Komfort und Qualität der hinteren Regierungssitzbänke. Sanft schaukelt der 264 TE dahin durch die thüringische Landschaft, Insekten summen mit dem PRV-Sechszylinder um die Wette, beides allerdings gut gedämmt. Ein Druck auf die Taste „Window down“ brächte zwar Frühlingsduft, ließe aber womöglich gleichzeitig auch den Wind of Change herein, das wollen wir lieber vermeiden. Störte es doch unter Umständen empfindlich die Lektüre des neuesten Memos des „Kommitees Antifaschistischer Widerstandskämpfer der Deutschen Demokratischen Republik“, das im Wagen parat liegt. Dämmendes Velours auf Sitzen, dazu eine Aura der Diskretion schaffende Gardinen prägten den sozialistischen Führungsalltag. Kein Leder, dafür Klimaanlage, beispielsweise zum Kühlen des Angstschweißes vom Herbst 1989. Was alles Delikate, Konspirative, Banale mag einst halblaut in die dunkelblauen Polster geraunt worden sein, um von diesen umgehend und für immer verschluckt zu werden? Der rest ist Schweigen – na, beinahe!

Denn dafür erzählen erhaltene Dokumente und Artefakte, außerdem heutige Besitzer. Und Zeitzeugen wie Jürgen Klöber, der einst Aktiver bei der Fahrbereitschaft war. Beim Umsteigen in einen 264 TE neueren Baujahres ist Gelegenheit für einen kleinen Plausch. Über die Zeit, als die DDR-Handelsgesellschaft Intrac insgesamt 15 Citroën CX 2400 Prèstige erwarb, von denen zwei nach einiger Zeit von der schwedischen Firma Nilsson zu Langversionen umgebaut wurden. Die eigentlichen Spezialisten für dieses Modell saßen in Frankreich, doch hätten Tissier und Heuliez abgewunken. Politbüro-Mitglied und Autonarr Günter Mittag soll den CX favorisiert haben, konnte aber schlecht nur für sich einen bestellen, daher habe er Honecker mit einem eigenen CX bedacht, heißt es. Wie großzügig und umsichtig!

Übrigens: Karosseriebauer Bertone hatte nach hunderten gebauter Volvo-Langversionen den Kopf geschüttelt, als die DDR einst zehn 264 TE nachordern wollte. So landete der Staatsapparat auch damit bei Nilsson. Diese späten Exemplare fahren sich deutlich anders als ihre älteren Vorgänger, Fahrwerk, Lenkung, Federung gerieten fahraktiver und nochmals komfortabler. Im (unverlängerten) CX Préstige des Staatsratsvorsitzenden entschwebt man den Realitäten des real existierenden Unbills nochmals entrückter, allerdings stören die „Mitterand-Fußbänkchen“ groß gewachsene Passagiere wie den Herrn Autor doch ein wenig. EH und der damalige französische Staatspräsident hatten ja ungefähr das gleich Gardemaß von gefühlten 1,60 Metern. Da passte das.

Direkt vor dem Erfurter Dom darf die „Fahrbereitschaft außer Dienst“ Aufstellung nehmen für drei Stunden. Der belebte Markt wird zur Bühne, die zahlreichen Passanten bilden das interessierte Publikum. Bedeutsamste Erkenntnis: mittlerweile hat sich das Verhältnis der Menschen zu den bereiften Symbolen einstiger Staatsmacht entspannt. Verbitterte Kommentare hört man nicht, jedoch das Lachen der Menschen, die nicht selten ironisch die „Winkehand“ Erich Honeckers bei Vorbeifahrt des Konvois imitieren.

Der wird dann doch ausgebremst – ausgerechnet zwischen zwei Orten namens Grableben und Nottleben! Von wegen „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, eine vereinigte deutsche Großbaustelle interessiert eine Ostalgiefahrt nicht: bitte Wende! Ansonsten jedoch hat die „Fahrbereitschaft a. D.“ zumeist freie Fahrt – die Leit-Garde in Gestalt von Hans-Joachim in voller Montour auf seiner authentischen MZ hegt den bundesdeutschen Verkehr des Frühlings 2022 ein wie weiland 1978 in der DDR. So mancher Kreisverkehr, so manche (rote) Ampel wird auf diese unbürokratische Art zur Freifahrt-Zone.

Vor dem Einrücken in die ehemalige Ausweichführungsstelle der Bezirkseinsatzleitung Suhl/Thüringen bietet sich die Gelegenheit zum Umstieg in die GAZ-13 Tschaika. Präsentiert auf der Expo Brüssel 1958, gebaut bis 1981 in offiziell 3.179 Exemplaren, wie Besitzer Mario erzählt. Acht Zylinder unter der mächtigen Haube, wobei Technik und Optik deutlich „inspiriert“ sind vom 1956er Packard Patrician/Caribbean. Stalin soll ja ein großer Packard-Fan gewesen sein, auch Erich Honecker und Willi Stoph posierten einst stolz vor ihren Tschaika-Limousinen, doch wenig später rollte dann doch die Volvo-Welle an. Und die Tschaikas? Sollen zuhauf die Wiedervereinigung Deutschlands unter dem Schneidbrenner erlebt haben – letzter Lichtstrahl in einem langen Autokarriere.

Apropos „Lichtstrahl“: So etwas gibt es hier unter Tage in der ehemaligen Ausweichführungsstelle nur künstlich, viele Meter unterhalb der Erdoberfläche unter meterdickem Beton verborgen. Zum Glück kam es hier nie zum Ernstfall, nicht nur die Autos hätten das nicht überlebt. Also schnell wieder nach oben, wo Thüringer Bratwurst und Kaltgetränke stärken, bevor es zur letzten Etappe ins Fahrzeugmuseum nach Suhl geht. Von Horch-Limousine über Melkus RS 1000 bis hin zum BMW-Rennwagen des legendären Rennfahrers mit dem nicht weniger legendären Namen Paul Greifzu reicht das Spektrum des Museums, das hier jedem nur wärmstens empfohlen werden kann. Danach heißt es „Auflösen des Konvois“, der in alle Himmelsrichtungen davonfährt, Martin aus Österreich dürfte dabei die weiteste Strecke haben. Was ihn und alle anderen nicht von einer Teilnahme 2023 abhalten dürfte. Denn Gutes kehrt ja bekanntlich immer wieder. Mindestens aber die Autos.